Die Datenschutzgrundverordnung verlangt für die rechtskonforme Verarbeitung personenbezogener Daten die Einhaltung verschiedener Grundsätze (Art. 5 DSGVO). Einer dieser Grundsätze ist die Rechtmässigkeit einer Datenverarbeitung, welche in Art. 6 DSGVO mit einem abschliessenden Katalog an Bedingungen (Erlaubnistatbeständen, Rechtfertigungsgründen) weiter spezifiziert wird. Man spricht in diesem Zusammenhang deshalb von einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Von den genannten Bedingungen muss mindestens eine erfüllt sein, um von der Rechtmässigkeit einer Datenverarbeitung auszugehen.
Eine Verarbeitung personenbezogener Daten ist daher nur rechtmässig, wenn sie (verkürzt formuliert):
- auf einer Einwilligung der betroffenen Person basiert (Abs. 1 Bst. a);
- zur Erfüllung eines Vertrags oder von vorvertraglichen Massnahmen erforderlich ist (Abs. 1 Bst. b);
- zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist (Abs. 1 Bst. c);
- zum Schutz lebenswichtiger Interessen erforderlich ist (Abs. 1 Bst. d);
- für die Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse erforderlich ist oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt (Abs. 1 Bst. e); oder
- zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich ist (Abs. 1 Bst. f).
Die genannten Bedingungen stehen zur Begründung von Rechtmässigkeit in keiner hierarchischen Rangordnung, sondern können jeweils einzeln oder zu mehreren erfüllt werden. Allerdings gibt es trotzdem qualitative Unterschiede: Ist die Bedingung aus Bst. a nach einer Einwilligung etwa sehr konkret und eindeutig formuliert, so ist die Bedingung aus Bst. f nach der Wahrung berechtigter Interessen mit Abstand am offensten formuliert. Dies hat zur Folge, dass sich unter die Bedingung aus Bst. f zwar viele verschiedene, von den anderen Bedingungen nicht erfasste Tatbestände subsumieren lassen. Es bedeutet aber auch, dass eine Anwendung dieser Bedingung zur Herstellung der Rechtmässigkeit einer Datenverarbeitung einer aufwändigeren Begründung bedarf. Ausserdem kann einer Verarbeitung von personenbezogenen Daten aufgrund Bst. f jederzeit widersprochen werden (Art. 21 DSGVO).
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Interessenabwägung
Wörtlich zitiert lautet der Art. 6 Abs. 1 Bst. f DSGVO:
„die Verarbeitung ist zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen, insbesondere dann, wenn es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt.“ Aus diesem Wortlaut wird ersichtlich, dass zur Anwendung der Bestimmung eine genaue Abwägung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen (oder eines Dritten) gegenüber den Interessen, Grundrechten und Grundfreiheiten der betroffenen Person zu erfolgen hat. Dies muss stets im Einzelfall geschehen – pauschale Interessenabwägungen sind nicht erlaubt – und die Interessen der betroffenen Person dürfen keinesfalls überwiegen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten diejenigen der betroffenen Person überwiegen oder zumindest gleichgewichtet sein müssen.
Für die eigentliche Interessenabwägung muss zunächst das Vorliegen eines tatsächlichen berechtigten Interesses des Verantwortlichen (oder eines Dritten) festgestellt werden. Sodann ist zu prüfen, ob die Verarbeitung der personenbezogenen Daten für dieses Interesse und zum Erreichen des damit verbundenen Zweckes auch wirklich erforderlich ist, das heisst, ob die Datenverarbeitung dafür das mildeste Mittel ist. Schliesslich muss geprüft werden, ob das Interesse bzw. die Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person nicht überwiegen. Dabei sind allfällig zu treffende Schutzmassnahmen zu berücksichtigen. Nur wenn alle drei Punkte bejaht werden können, ist die Bezugnahme auf Art. 6 Abs. 1 Bst. f DSGVO für die Rechtmässigkeit einer Datenverarbeitung legitim. Die Darlegungslast dafür liegt beim für die Verarbeitung Verantwortlichen.
Falls es sich bei der betroffenen Person um ein Kind unter 18 Jahren handelt, sind seine Interessen besonders hoch zu gewichten bzw. an die Interessenabwägung besonders strenge Anforderungen zu stellen. Vor Vollendung des 16. Altersjahres ist grundsätzlich von einem Überwiegen der Interessen des Kindes auszugehen.
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Berechtigte Interessen (Beispiele)
Beispiele für berechtigte Interessen gibt es unzählige. Grundsätzlich kann jedes von einer Rechtsordnung anerkannte, legitime Interesse eines Verantwortlichen oder Dritten (ob rechtlich, tatsächlich, wirtschaftlich oder ideell) darunter fallen. Einem berechtigten Interesse entspringen kann gemäss DSGVO etwa die Verarbeitung personenbezogener Daten:
- zur Ausübung spezieller Grundrechte wie z.B. der Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit;
- im Rahmen der Berufsfreiheit;
- zur Betrugsbekämpfung (ErwG 47);
- zur Direktwerbung (ErwG 47);
- im Rahmen des kleinen Konzernprivilegs (ErwG 48);
- zur Gewährleistung der IT-Sicherheit (ErwG 49);
- zur Anzeige strafrechtlich relevanter Sachverhalte (ErwG 50);
- wenn die Daten durch die betroffene Person offensichtlich öffentlich gemacht wurden;
- zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen.
Im Übrigen können sich Behörden jedoch in Ausübung ihrer hoheitlichen Tätigkeit nicht auf Art. 6 Abs. 1 Bst. f DSGVO berufen, da all ihre öffentliche Aufgabenerfüllung einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Allenfalls können sie sich jedoch für Datenverarbeitungen ausserhalb der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben auf ihr berechtigtes Interesse berufen (z.B. bei der Auswertung von Besuchen ihrer Internetseite oder beim Versand von Weihnachtskarten).
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Prüfschema für Verantwortliche
Das nachfolgende Prüfschema zur Interessenabwägung für Verantwortliche von Datenverarbeitungen auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 Bst. f DSGVO richtet sich nach den Ausführungen des WP 217 der Artikel-29-Datenschutzgruppe:
- Zunächst ist einzuschätzen, welche Rechtsgrundlage nach Art. 6 Abs. 1 Bst. a-f DSGVO für die vorgesehene Datenverarbeitung anwendbar sein könnte.
- Falls die Rechtsgrundlage aus Art. 6 Abs. 1 Bst. f DSGVO (berechtigtes Interesse) angewandt werden soll, muss abgeklärt werden, ob das in Betracht gezogene Interesse als „berechtigt“ oder als „nicht berechtigt“ einzustufen ist. Damit ein Interesse als berechtigt angesehen werden kann, muss es kumulativ die folgenden Voraussetzungen erfüllen:
a) es muss rechtmässig sein (d.h. es muss dem anwendbaren Recht der EU und des EU/EWR-Mitgliedstaates entsprechen);
b) es muss hinreichend klar artikuliert sein, damit eine Abwägung mit den Interessen und Grundrechten der betroffenen Person möglich ist (d.h. es muss hinreichend spezifisch sein);
c) es muss ein tatsächliches und gegenwärtig vorliegendes Interesse darstellen (d.h. es darf nicht spekulativ sein).
- Weiter ist festzustellen, ob die Verarbeitung zum Erreichen des verfolgten Interesses wirklich erforderlich ist. Dazu ist zu überlegen, ob es auch andere, weniger stark in die Privatsphäre eingreifende Mittel zum Erreichen des berechtigten Interesses des Verantwortlichen gibt.
- In einem nächsten Schritt gilt es abzuschätzen, ob die Grundrechte oder Interessen der betroffenen Person allenfalls höher zu gewichten sind als das berechtigte Interesse des Verantwortlichen.
- Das Ergebnis des letzten Schritts ist sodann unter Berücksichtigung allfälliger zusätzlich zu ergreifender Schutzmassnahmen erneut zu überprüfen und sicherzustellen, dass die Grundrechte oder Interessen der betroffenen Person das berechtigte Interesse des Verantwortlichen nicht überwiegen.
- Schliesslich muss der Nachweis über die Einhaltung und Sicherstellung von Transparenz gegenüber der betroffenen Person erbracht werden.
- Als letztes hat der Verantwortliche zu prüfen, wie das weitere Vorgehen lautet bzw. auf welche andere Rechtsgrundlage er seine Datenverarbeitung allenfalls stützen könnte, sollte die betroffene Person ihr Widerspruchsrecht wahrnehmen.
- Zunächst ist einzuschätzen, welche Rechtsgrundlage nach Art. 6 Abs. 1 Bst. a-f DSGVO für die vorgesehene Datenverarbeitung anwendbar sein könnte.